Leseprobe

Leseprobe aus Kapitel IV: Von beherzten Reitern

 

Wieso bin ich nur in der Mittagshitze losgegangen? Die Sandalen, die Elpis sich angezogen hatte, reichten nicht aus, um die Wärme der Straße abzuhalten. Die Sonne heizte die Erde so unerbittlich auf, dass die Luft über dem Boden Schlieren zog. Dies war zwar nicht ungewöhnlich für September, denn am südlichen Ozean waren die Jahreszeiten in Trockenzeit und Regenzeit aufgeteilt. Doch Elpis besuchte die Stadt meistens nur früh morgens und spät abends, weshalb sie die Mittagsonne vergessen hatte.

Die leidensfähigen Torontorfer Bürger waren es gewöhnt, lange Zeit mit der zuweilen tödlichen Sonne umzugehen, wenn keine Wolke ihre Strahlen verdeckte. Sie blieben einfach in ihren lehmverspachtelten Häusern, bis die Dämmerung hereinbrach. Der Lehm hielt die Häuser in der Trockenzeit kühl und wurde in der Regenzeit einfach fortgespült, wodurch die prachtvollen, weißen Steine zum Vorschein kamen. Jetzt war es mitten in der Trockenzeit. Schon vier Monate waren vergangen, ohne dass es einen Tropfen Regen gegeben hatte. Auch in den nächsten zwei Monaten würde dies voraussichtlich nicht passieren. Elpis verwunderte es also nicht, dass ihr so gut wie niemand auf der Straße begegnete. Natürlich konnte sich nicht jeder Bürger in der Stadt den Luxus leisten, im Haus zu bleiben und den Tag abzuwarten, doch in den Häusern rund um den Palast der Laindar wohnten hauptsächlich wohlhabende und reiche Torontorfer.

Sie bog in eine kleine Gasse ein, um den Weg abzukürzen und ihre armen Füße im Schatten zu entspannen. Links und rechts ragten hohe Lehmwände auf und nur manchmal konnte Elpis einen Blick erhaschen, wie es im Innern aussah. Wenn doch einmal eine Tür offen war, konnte Elpis sehen, wie Bedienstete emsig hin und her gingen, den Boden wischten oder die Wäsche der reichen Hausherren aufhängten. Den Großteil des Weges jedoch sah sie nicht viel vom Reichtum der Bewohner dieses Viertels. Es gehörte zur Torontorfer Bauart, die Häuser in der Trockenzeit schmucklos zu halten. Das farbenfrohe Leben spielte sich nur im Innern ab.

Ein wenig enttäuscht davon, dass es in dem noblem Viertel nicht mehr zu sehen gab, schaute Elpis auf den Staub vor sich und versank in ihren Gedanken. Die Straße schien kein Ende zu nehmen.

Immer mehr fensterlose, lehmbraune Häuser tauchten auf, doch die große Mauer des Palastes ließ auf sich warten. Vielleicht hätte ich doch Suzanna mehr zuhören sollen, dachte Elpis. Die drückende Hitze machte sich immer mehr bemerkbar. Obwohl sie im Heim noch ausreichend getrunken hatte, fühlte Elpis, wie ihre Zunge immer trockener wurde und ihre Lippen aufsprangen. Sie musste jetzt bald den Palast erreichen, oder sie würde wieder anfangen zu fantasieren. Ihr schossen die Erlebnisse von vor vier Jahren in den Kopf, als Agatha ihr während der Mittagszeit extra Gartenarbeit aufgedrückt hatte, ohne dass sie vorher Gelegenheit gehabt hatte, zu essen oder zu trinken. Als die Gouvernante dann nach ihr sehen wollte, war Elpis fest davon überzeugt, Agatha sei eine nette, dicke Fee, die hergeflogen war, um Elpis aus dem Heim herauszuholen.

Endlich tauchte die Kreuzung auf. Die staubige Gasse, auf der Elpis gekommen war, kreuzte die große Prachtstraße. Sie zog sich von den Toren des Palastes hoch oben auf dem Hügel hinunter zum Hafen am Delta des Toront. Schon auf den letzten Schritten hörte Elpis, wie es immer belebter wurde. Die vielen kleinen Händler und Tagelöhner konnten es sich nicht leisten, wie die Reichen den ganzen Tag zu vertrödeln. Mit jedem Schritt, den Elpis näher kam, nahmen die Geräusche der Marktschreier, schnatternden Gänse und feilschenden Kaufleute zu.

Die vielen Geräusche und die stickige Luft hier bereiteten Elpis Kopfschmerzen. Als sie sich wieder gefangen hatte, wollte sie ihren Fuß auf die Pflasterung der Straße setzten, musste ihn aber sofort, mit schmerzerfülltem Gesicht, zurückziehen. Die Sonne hatte die Steine so erhitzt, dass es sich selbst mit Sandalen anfühlte, als wolle sie mit nackten Füßen über einen Ofen laufen.

Elpis sah sich die anderen Menschen an, um zu lernen, was der Trick war. Doch je länger sie sie beobachtete, desto mehr bekam sie den Eindruck, dass sich sonst niemand daran zu stören schien. Die meisten gingen rasch und barfuß über die Pflasterung, hielten manchmal kurz inne, um ein paar Worte zu wechseln oder an einem Stand etwas zu kaufen, und liefen dann weiter.

“Brauchst du feste Schuhe?”

Elpis wurde aus ihren Gedanken gerissen. Ein Junge, der einen kleinen Stand an der Kreuzung aufgebaut hatte, sah sie mit großen Augen an. Sie musterte ihn genau: Der Junge schien so alt zu sein wie sie und war kaum größer, doch irgendwas stimmte mit seiner Haut nicht. Sie war dunkel und ledrig und machte aus einem vielleicht fünfzehnjährigen Jungen einen alten Mann.

“Ich hab leider kein Geld dabei”, log Elpis mit einem entschuldigenden Achselzucken. “Aber vielleicht …” Sie sprach nicht weiter, denn bei den Worten “Kein Geld” hatte der Junge augenblicklich das Interesse verloren und sich wieder der Straße zugewandt, auf der Suche nach neuen potentiellen Kunden.

Elpis sah bergauf Richtung Palast und versuchte zu erahnen, wie viele Schritte über die brütend heißen Steine sie wohl machen musste.

Bevor sie noch länger darüber nachdenken konnte, kniff sie die Augen zusammen und rannte los. Jedes Mal, wenn ihre Füße die heißen Steine berührten, durchzog sie ein stechender Schmerz. Nur ein paar große Sprünge schaffte sie, dann hechtete Elpis, von Schmerzen gejagt, in eine schattige, ungepflasterte Seitengasse.

Sie lief ein paar Fuß in die Gasse hinein, um dem Lärm der Hauptstraße zu entgehen, und setzte sich dann im Schneidersitz auf die Erde. Sie versuchte, ihre Füße nicht den Boden berühren zu lassen, damit sie abkühlen konnten. Elpis fasste ihre Fessel an, verdrehte das Knie, damit sie ihre Sohle sehen konnte, und bohrte einen Finger zwischen Fuß und Schuh. Sie erschrak: Die Ballen waren allein von dem kurzen Weg knallrot geworden. Wie sollte sie es nur so bis zum Palast schaffen? Wieso war sie nur mit solchen dünnen Sandalen losgegangen!

“Hey, Hüptsche, darf ich dir helfen?”, fragte eine rauchige Stimme von oben. “Ich kenn ’nen Mittel das ist gut für dich. Hab ich bei mir zu Haus!”

Elpis schrak hoch. Der Mann, der über ihr stand, war genauso wettergegerbt wie der Junge von der Kreuzung. Er hatte ein durch Pocken vernarbtes Gesicht, das zusätzlich von einer einzelnen, fetten, eitrigen Narbe entstellt wurde, die sich von der linken Schläfe zum rechten Mundwinkel und über ein Auge zog. Seine Kleidung, wenn man es so nennen wollte, bestand aus einer kurzen Stoffhose, deren Beine wohl schon vor geraumer Zeit von einem Straßenköter abgekaut worden waren. Als der Mann ihren angewiderten Blick bemerkte, lächelte er kurz, sodass Elpis seine schwarzen Zähne sehen konnte.

“Nein, danke, mein Herr. Ich komme schon zurecht”, antworte Elpis. Es war wohl besser, höflich zu sein.

“Wieso nicht? Wenn du willst zeig ich dir danach noch was anderes!”

Er griff hinter seinen Rücken und hielt plötzlich ein Fleischermesser in der rechten Hand. Elpis stieß einen spitzen Schrei aus, sprang auf und versuchte zurückzuweichen. Sie drehte sich um und wollte in Richtung Hauptstraße laufen, da stellte sich ihr ein weiterer Mann in den Weg. Er war ziemlich kurz geraten, denn er reichte Elpis nur bis zur Brust und war genauso dünn wie der Mann mit der zerfetzten Stoffhose. Auch er richtete ein Messer auf sie.

“Wo willst du denn so schnell hin, Süße?”, fragte er mit triumphierender Stimme und grinste. “Sind wir keine angenehme Gesellschaft?” Er blickte lüstern auf Elpis Brüste unter ihrem gelben Kleid. “Du bist so schön!”

Elpis versuchte, Ruhe zu bewahren. Die anderen Mädchen, die sich manchmal rausschlichen, hatten sie vor solchen Gestalten gewarnt. Sie wusste, wenn sie ruhig blieb und ihnen ihr Geld gab, würden sie es nicht wagen, sie anzufassen. Dafür war die Hauptstraße zu nah. Trotzdem fühlte Elpis den Druck, flüchten zu wollen. Sie schaute nach links und rechts, doch da war nichts als viele Fuß hohe, fensterlose Lehmwände. Vielleicht kann mir ja jemand helfen wenn ich laut brülle?, dachte Elpis und vergaß dabei, was die anderen Mädchen gesagt hatten. Sie versuchte mit einem Ausweichschritt nach rechts, an dem Kleinwüchsigen vorbei zurück zur Hauptstraße zu gelangen. “Hilfe, lasst mich in Ruhe, Hilfe!” Der Mann war schneller. Lachend versperrte er ihr den Weg.

Elpis Schreie jedoch schienen Wirkung gezeigt zu haben, denn am Eingang der Gasse blieb für einen kurzen Moment ein Mann mit seiner Frau stehen und sah hinein. Elpis flehte ihn mit ihrem Blick an, einzugreifen, doch das Paar zog es vor, sich nicht einzumischen.

“Wer sagt denn, dass du reden musst, Süße? Wieso machst du es uns denn so schwer?”, sagte die dunkle Stimme dicht hinter ihr. Der Stoffhosenmann griff nach ihrer Schulter. Elpis wollte wieder losschreien. Das ließ der Kerl jedoch nicht zu. Mit der einen Hand griff er nach ihrem Mund und mit der anderen hielt er sein Messer an ihre Kehle. Sie konnte seinen Schweiß und seinen fauligen Atem riechen, als er ihr ins Ohr zischte:”Jetzt sei schön brav und halte deinen Schnabel sonst sorg ich dafür, dass du ihn nie mehr brauchen wirst.”

Elpis versuchte, flach zu atmen, um sich nicht zu schneiden. Da bemerkte sie, dass der Mann mit der Stoffhose sie zwar noch festhielt, jedoch nicht beachtete. Er starrte vielmehr auf den Eingang der Gasse.

Elpis folgte seinem Blick und sah, was seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

Gut ein dutzend Reiter waren an der Einmündung stehen geblieben. Der Anführer schaute hinein und schien Elpis Notlage sofort verstanden zu haben. Er drehte das Pferd in ihre Richtung, zog sein Schwert und trieb das Tier auf den Kleinwüchsigen zu.

Mit einem gewaltigen Hieb spaltete der fremde Reiter dem kleinen Mann den Kopf. Eine Schwall Blut, vermischt mit Stücken des Schädels, spritzten in den Staub der Gasse. Nur knapp verfehlte er Elpis‘ Kleid.

Sie spürte, wie der Mann hinter ihr zuckte, als sein Freund tot zusammensackte. Ängstlich sah sie den Reiter vor ihr an. Sein Schwert war rot vom Blut des Getöteten.

Mit einem Ruck ließ der Stoffhosenmann sie los und stieß sie vor das Pferd des Reiters, das Mühe hatte, nicht auf Elpis zu treten. Als Elpis sich vom Boden aus umsah, war ihr Angreifer fort.

Der Reiter verfolgte ihn kurz, trabte jedoch bald darauf zu Elpis zurück und stieg vom Pferd. Mit einem Mal verschwand in ihr alle Anspannung.

“Alles gut?”, fragte der Fremde und machte eine Handbewegung. Augenblicke später war Elpis von fünf Reitern umgeben.

“Ja, denke schon. Ich habe nur noch nie einen Menschen sterben sehen”, nuschelte Elpis. Sie versuchte, ihren Retter anzuschauen. Er war sehr groß für einen Menschen aus Pallas, vielleicht einen Kopf größer als der Durchschnitt, aber vielleicht lag es auch daran, dass sie auf dem Boden saß. Sein Gesicht wirkte wie das eines jungen Mannes um die dreißig. Doch der durchdringende Blick seiner türkisfarbenen Augen sagte ihr, dass dieser Mann schon einiges in seinem Leben gesehen hatte. Er war in einen ledernen Wams gekleidet, der die Arme frei ließ. Außerdem trug er einen kurzen Rock, Schienbeinschoner aus hartem Leder und Sandalen. Auf der Brust und auf dem Schild prangte der Zentaur mit Dreizack.

Ist er ein Stadtwächter?, überlegte Elpis.

“Herr, wir müssen weiter. Hier ist es nicht sicher für Euch!”, sagte einer der anderen Reiter vom Pferd aus. Auch er hatte den Zentauren auf sein rotes Wams gestickt.

Auf einmal fiel es ihr siedend heiß ein. “Ihr seid ein Laindarfürst!”, rief sie aus.

Die Wächter sahen sie böse an. Es schien ihnen nicht zu gefallen, dass Elpis laut “Laindarfürst” gesagt hatte.

Sie wollte sich gerade entschuldigen, da sagte der Laindar: “Ach, mach dir nichts draus!” und lachte. Dann griff er nach ihrem Arm und richtete sie auf. “Diese verdammten Räuber werden immer dreister. Wie kann es sein, dass die am helllichten Tag Menschen überfallen und junge Mädchen vergewaltigen wollen? Und das auch noch hier in Lainheim, Torontorfs bestem Viertel! Man sollte doch meinen, dass wir wenigstens den Bereich um unseren Palast schützen können sollten”, brummte der Fürst vor sich hin. “Ich hoffe, meinem Schützling Elpis Laindar geht es gut. Ich sollte ein junges Mädchen vom Heim für Mädchengeborene abholen, sie war aber schon fort. Kennst du sie vielleicht?”

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