Geschichten des vierten Zeitalters: Ãœber Laindar

Der Beginn der vierten Welt wird im Allgemeinen mit der Geburt des Herrschers von Pallas, Laindar Archeos, im Jahre 5264 dritte Zeit oder 1 vierte Zeit angegeben.

Die Menschen hatten sich nach Eulyales Krieg getrennt und die alten Königreiche waren zerfallen. Wie früher schon auf Gaias Insel Ganoe, schlossen sich die Menschen deswegen zu Stämmen zusammen, die durch Verwandtschaft zusammengehalten wurden. Die Geister erholten sich langsam wieder und kamen aus ihren Festungen in den Tiefen der Wälder oder Berge hervor, um an wirtlicheren Plätzen zu siedeln. Damit alles im Gleichgewicht blieb, kümmerten sich die Feen der Felizitas um den Ausgleich zwischen den Geistern, Tieren und  Stämmen. Diese Kontrolle allen Lebens war eine der vielen Lehren aus der dunklen Zeit nach der Herrschaft Rions und Eulyales. Die Götterwelt und die Erde verband, wie seit allen Zeiten schon, der Baum der Welt, welcher tief im nun viel kleineren nördlichen Wald stand. Aufgrund dieser Verbindung war es, wie von Alters her, nicht ungewöhnlich, dass die Götter und auch der Göttervater auf der Erde umhergingen, und sich mit den Geschöpfen vereinten. Nach der dritten Zeit waren die Götter jedoch übereingekommen, dass die Kinder aus den Beziehungen mit Sterblichen verpflichtend im Numengard, der Welt der Götter, leben sollten. Nun kam es, dass der Göttervater wieder einmal ein Kind zeugte, obwohl er seiner Frau geschworen hatte, ihr treu zu bleiben. Da er nicht wagte, den Jungen, der die Frucht seiner Beziehung mit einer Sterblichen war, zurück in den Numengard zu holen, beschloss der Göttervater, das Kind zu töten. Die Mutter des Kindes, Erea, liebte jedoch ihren Sohn über alles, sodass sie den Jungen vor dem Göttervater verbarg und ihm sagte, er sei einem frühen Kindstod erlegen. Der Göttervater glaubte diesen Schwindel und verließ Erea für immer. Erea erzog den Jungen, den sie Archeos nannte, wie einen Menschen. Jeder im Dorf glaubte, Archeos, der Vaterlose, sei einer von ihnen. Er wuchs heran und gelangte zu stattlicher Schönheit, die jeden Mann im Dorf erblassen und alle jungen Mädchen erröten ließ. Winter kamen und gingen und mit den Jahren fingen die Dorfbewohner an zu zweifeln, ob Archeos ein Mensch wie jeder andere war.

Er alterte nach seinem achtzehnten Lebensjahr beinahe unmerklich. Auch heilten selbst schlimmste Verletzungen schnell ab und nachdem Archeos bei einem Überfall auf sein Dorf ein Bein verloren hatte, wuchs es ihm wieder nach. Lange nachdem seine Mutter tot war und ebenso seine Freunde aus jungen Jahren, stand Archeos immer noch in der Blüte seiner Pracht und Schönheit. Selbst als die Kinder der Kinder seiner Knabenzeit zu Greisen geworden waren, konnte man an Archeos keine Zeichen des Alters sehen. Wenn er vorüberging, tuschelten die anderen Dorfbewohner: „Es muss eine Strafe der Götter sein, seine Mutter war eine Hure und er ist ein Bastard.“

Als Archeos es eines Tages nicht weiter ertrug, machte er sich auf und verließ das Dorf seiner Kindheit. Zweihundert Jahre lang wanderte er durch die Welt von Süden nach Norden, dann bis an die Gestade des östlichen Meeres und wieder zurück in den Westen. Überall, wo er hinkam, war er ein Fremder, denn selbst, wenn er einen Ort zum zweiten Mal betrat, lagen nicht selten fünfzig Jahre dazwischen, sodass die meisten, die sich an ihn hätten erinnern können, längst verstorben waren. Mit der Zeit gewöhnte Archeos sich daran, und wenn er in eine Stadt kam, ging er zum Herrscherhaus, um dem jeweiligen Fürsten seine Dienste anzubieten, denn in all den Jahren hatte er ein großes Wissen aufgebaut. Und so kam es, dass Archeos im Jahre 218 v.Z. in das Haus von Jahn Laindar Lainsohn, König der Pallaten, eintrat. Das Königreich der Pallaten war zu der Zeit nicht mehr als eine enges, lang gezogenes Tal in der Mitte der bis dahin namenlosen Halbinsel im äußersten Südwesten des Kontinents.

Anmerkung des Ãœbersetzers: Dieses Tal wird nun Haran Tal genannt und ist eine der Provinzen des Reiches.

Der junge Herrscher Jahn war gerade volljährig geworden und seine Vormünder, die seine Herrschaft in seiner Kindheit verwaltet hatten, trachteten nach seinem Thron. Archeos erkannte schnell die Situation und spielte die Adeligen gegeneinander aus. Er bestach ein Orakel, um den Adligen zu sagen, dass Jahn das Reich zu wahrer Macht bringen werde, das Reich zerfiele, sollte er verraten werden. Aus Angst, die Privilegien ihrer Familien zu verlieren, entschlossen sich einige der Verschwörer, ihre Gefährten zu verraten und sich Jahn zu unterwerfen. König Jahn vereitelte den Staatsstreich und wies den Verrätern neue Lehen auf kargem Fels zu, da sie ihm nur geholfen hatten, um sich selbst zu schützen. Nachdem der Adel entmachtet war, wurde Jahn unangefochtener Herrscher der Pallaten und Archeos seine rechte Hand. Mit den Jahren wurde das Band zwischen Archeos und König Jahn immer fester, sodass Archeos das erste Mal seit über zwei Jahrhunderten sesshaft wurde. Sechzig Jahre blieb er an Jahns Seite, eine Zeit ,die zur goldenen Ära der Menschenherrschaft über das neugegründete Königreich Pallas zählte.

Da Haranstadt, die bisherige Hauptstadt, den Bedürfnissen einer aufstrebenden Regionalmacht nicht mehr genügte, beschlossen Jahn und Archeos im Jahre 256 v. Z., weiter im Süden an einem Flussdelta eine neue Stadt zu gründen. Der Fluss wurde von den Wassergeistern, die hier schon seit Eulyales Tagen lebten, Toront genannt, und Jahn, der um die friedliche Koexistenz zwischen Menschen und Wassergeistern bemüht war, nannte die neue Hauptstadt „Toront-orf“ (gesprochen Toron-torf). Anfangs waren es nicht mehr als ein paar strohbedeckte Häuser, die große Halle und der Hafen, doch mit dem Aufstieg der Pallaten zum vorherrschenden Volk auf der Halbinsel, die man nun nach ihnen „Pallas“ nannte, wuchs auch die Hauptstadt Torontorf.

Aber auch an Jahn ging die Zeit nicht spurlos vorbei. Als die nördliche Grenze bis zu den Noriod verschoben war und sich erste größere Städte gebildet hatten, war auch Jahn ein alter Mann geworden. Er, der kinderlos war und niemanden aus seiner Familie sein Erbe antreten lassen wollte, wusste, dass es bald Zeit wurde, die Herrschaft zu übertragen. Und so kam es, dass Archeos, der Sohn einer einfachen Bäuerin, in die Privatkammer der großen Halle von Torontorf gerufen wurde und König Jahn, der im Sterben lag, ihm den Herrschaftsring übergab.

„Wir wissen beide, dass es niemanden gibt, der das Land besser führen kann als du, mein Bruder“, waren Jahns letzte Worte.

Jahns Ehefrau, die nicht mit einem Erben gesegnet war, trat noch am Totenbett an Archeos heran, kniete nieder, küsste den Herrscherring an Archeos‘ Finger und verließ Torontorf für immer. Archeos betete die ganz Nacht an dem kälter werdenden Leichnam seines Freundes und erhob sich erst, als die Sonne über dem Meer aufging.

Am Morgen machten ihm alle Würdenträger des Reiches ihre Aufwartung und als sie damit fertig waren ihm die Treue zu schwören, schritt Archeos die Stufen zum Thron hinauf und sprach die Gründungsworte der Laindardynastie: “Hier stehe ich, Archeos, Fürst aller Pallaten, Herr von Pallas, und spreche zu euch in der Blüte unserer Zeit. Lasst uns das bewahren, was unsere Majestät König Jahn Lainsohn, mein Bruder, errichtet hat und sein Erbe pflegen, sodass reiche Ernte ins Haus steht. Mit meiner Herrschaft begründe ich eine Dynastie, die fortan ‚Laindar‘ heißen soll, zu Ehren von König Jahn Lainsohns Herrschaft!“

Anmerkung des Übersetzers: Warum Archeos nie den Königstitel angenommen hat, weiß bis heute niemand. Doch gerade durch diesen Verzicht kristallisierte sich die Einteilung in Fürsten und Könige heraus, die bis heute auf der ganzen Welt angewendet wird.

Mit seiner fünften Frau Esther zeugte Archeos endlich seinen ersten Sohn Tion,  und wie zuvor einige Töchter. Auch Tion war mit der Gabe des langen Lebens gesegnet, seine Schwestern, sowie Archeos Töchter mit seinen früheren Frauen jedoch waren den Menschen viel ähnlicher, denn sie verstarben ganz genau wie sie. Fünfhundert Jahre waren Archeos und Tion zu zweit, bis Allanis und nach einer Weile Merot dazu kamen. Zweitausend Jahre nach der Gründung der Dynastie, an der Spitze der Macht der Laindar, war der männliche Stamm auf zwanzig Laindar angewachsen. Torontorf war zu dieser Zeit mit einer Million Menschen die größte Stadt der Welt. Die Schiffe, die den Hafen ansteuerten, wurden schon auf den Inseln im Delta des Toront entladen, da im Hafen häufig kein Platz für sie war. Schon von Weiten grüßten gigantische Statuen des Rion und der Elaine die Seefahrer, die Torontorf ansteuerten. Die Wassergeister waren aufgrund der vielen Menschen den Toront hinaufgezogen und hatten ein eigenständiges Reich, genannt Nawolef, rund um den Tafelberg im Herzen von Pallas gegründet. Diese Vertreibung der Wassergeister begründete den schwelenden Konflikt, der bis in die heute Zeit reicht.

Die Pracht von Pallas spiegelte sich nicht nur in Torontorf wider. Auch Städte, die früher einmal zu anderen Menschenstämmen gehörten und nun dem Reich angegliedert waren, blühten. Beste Beispiele hierfür waren Nordend, das über den zweitwichtigsten Hafen und die Verbindungen zum Lichterwald, dem Überbleibsel des früheren nördlichen Waldes, verfügte. Fjordheim, Bachelin und Naultiheim im Osten produzierten mehr Korn als ganze Länder in anderen Regionen und in Rion hatten die Bewohner die Kunst des Glasbrennens perfektioniert. Auch Haran, das alte Tal, dem die Pallaten entsprungen waren, hatte sich zu einem bevölkerungsreichen Zentrum der Kultur entwickelt. Nördlich der Noriod bildete sich ab etwa 850 v.Z. ein Schwesterkönigreich unter Pallas‘ Führung, welches sich in Anlehnung an ihren Protektor „Gallos“ nannte. Pallas‘ und Gallos‘ Glanz strahlte bis in den hintersten Teil der Welt und so kam es, dass Kräfte auf sie aufmerksam wurden, denen sie nicht auffallen durften.

Numina, die Frau des Göttervaters, welche im Jahre 2015 v.Z. der Laindar Dynastie in den Titanbergen des Nordens weilte, vernahm, es gäbe eine Herrscherdynastie, die seit sagenhaften zweitausend Jahren an der Spitze der Pallaten stand. Misstrauisch geworden, wanderte sie durch die gesamte Welt bis in den Südwesten nach Torontorf. Dort traf sie auf de, kaum älter gewordenen Archeos. Durch eine List erschlich sie sich Zugang zu einer Abendgesellschaft der Laindar und ihre Schönheit fiel Archeos sofort auf, sodass er sie mit in seine Gemächer nahm. Dort, im Angesicht dieses wahrlich göttlichen Antlitzes, vermochte er nicht zu sehen, wer sie wirklich war. So gelang es ihr, ihm das Geständnis zu entlocken, dass nicht etwa eine zweitausend Jahre alte Dynastie existierte, sondern vielmehr ein über zweitausend Jahre alter Herrscher. Da Numina nun nicht mehr zweifelte, dass es sich bei Archeos um einen Halbgott handelte, erlosch ihr Interesse an ihm und sie wandte einen Schlafzauber an, um dann den Palast zu verlassen. Als Archeos erwachte, war Numina schon viele Meilen entfernt zum Baum der Welt unterwegs, und Archeos, der sich zwar wunderte, aber sich nichts dabei dachte, beschäftigte sich wieder mit der Regierung seines Reiches. Numina jedoch erklomm den Baum der Welt und stellte ihren Mann zur Rede. Dieser gestand ihr alles, verteidigte sich jedoch damit, seine damalige Geliebte angewiesen zu haben, das Kind zu töten. Numina, rasend vor Wut, wandte sich von ihm ab und ersann einen Racheplan.

Sie erschuf Vierundzwanzig Rachegeister, für jeden Laindar einen. Diese nannte sie Ifrit und stattete sie mit der Gabe des langen Lebens, der Metamorphose und der Gabe der großen Kraft aus und schickte sie zur Erde. Um ihren Mann davon abzuhalten, jemals wieder einen Fuß auf die Welt zu setzen, steckte sie den Baum der Welt in Brand.

Sechshundertsiebzig Jahre lang befolgten die Ifrit Numinas Befehle und töteten acht der Laindar. Das wurde jedoch immer schwerer, da sich die Halbgötter, spätestens seit der Nacht der scharfen Klingen 2317 v.Z., vor allem im ihrem neu errichteten Palast aufhielten.

Anmerkung des Übersetzers: Nacht der scharfen Klingen wird der Überfall der Ifrit auf Hamad, einen Ort in Sanaa, genannt, wo sich Tallos Tionsohn und seine Söhne Egippo und Edeos aufhielten. Alle drei wurden von den Ifrit hingerichtet.

Da ihr Unterfangen schließlich hoffnungslos wurde, strichen die Ifrit rastlos weitere zweihundertziebzig Jahre durch die Lande, bis sie merkten, dass es niemanden in der Götterwelt zu stören schien, ob sie nicht ihrem Auftrag nachgingen oder nicht. So kam es, dass auch die Ifrit sich niederließen und 2520 v.Z. an der Grenze zum ewigen Eis, hoch im Norden, eine Stadt gründeten. Ihre Aufgabe missachtend, kümmerten sich die Rachegeister nun nicht mehr um die Vernichtung der Laindar, sondern um ihren eigenen Machterhalt. Pallas‘ Stern begann zu sinken, denn viele Handelspartner im Osten gaben ihr Geld für andere Dinge aus, als die Waren der Pallaten oder Galloten zu kaufen. Der wirtschaftliche Niedergang zerrüttete die Beziehung zwischen den Zwillingskönigreichen. Die mächtige pallatische Armee wurde verkleinert und hinterließ ein Machtvakuum, das Separatisten in Gallos nutzten, um das Königreich in einem Bürgerkrieg in viele kleine Reiche zu zerlegen (2587 v.Z). Ohne Gallos an seiner Seite musste sich Pallas auf seine Seemacht verlassen, doch die Armut vieler Küstenstädte zwang zahlreiche Seeleute in die Piraterie, die den Seehandel fast vollständig zum Erliegen brachten.

Und so verkam Pallas, das einstige Weltreich, zu einer hohlen Hülle. Dieses Scheinreich durchschauten auch innerhalb Pallas lange unterdrückte Volksstämme, und proklamierten 2763 v.Z. im Zentrum der Halbinsel einen eigenen Staat namens Sarael, der sich mit dem Wassergeisterreich Nawolef verbündete. Die Laindar intervenierten massiv, gaben jedoch nach aussichtslosem Kampf ihren Widerstand auf und schlossen Friedens- und Handelsverträge ab, um nicht jeden Einfluss auf die inneren Gebiete zu verlieren. Während also Gallos und Pallas zerfielen, ging ein neuer Stern am Staatenhimmel auf: Die Macht der Ifrit, einst nur als Henker für die Laindar erschaffen, wuchs und mit jedem eroberten Reich weiter.

Bis im Jahr 2951 v.Z. eine Seuche im Norden um sich griff. Eine mysteriöse Krankheit, aggressiv und tödlich, bereitete sich rasend schnell in den kalten Landen des Nordens aus. Es sei ein Fluch der Feen, so munkelte man in den Herrscherhäusern des Kontinents. Die Seuche sorgte dafür, dass es für die Ifrit nun bedeutend schwerer wurde, ihr Reich zusammenzuhalten. Nun steht es aus, was die Herren des Westens aus der gewonnenen Ruhe machen werden.

 

Letzter Eintrag in Mimirs Chroniken, gezeichnet der Ãœbersetzer von Laosheim, erster Mai 2963 v.Z.