Geschichten des dritten Zeitalters: Rion und Eulyale

Zwei Zeiten waren gekommen und gegangen, ehe diese Geschichte ihren Anfang nahm. Nachdem die Götter, die zu dieser Zeit noch Numen genannt wurden, durch die vollständige Vernichtung der zweiten Welt den Wünschen der Feen gefolgt waren, entschlossen sie sich, dass ihre Nachkommen, welche sie mit sterblichen Geschöpfen der Erde gezeugt hatten, die Entscheidung treffen mussten, ob sie auf der Erde bleiben oder doch im Numengard leben wollten. Diese Entscheidung war hart, denn niemand konnte sie wieder zurücknehmen, nachdem er sie einmal getroffen hatte. Alle Kinder der Götter, gleichgültig, wann sie das Licht der Welt erblickt hatten, entschieden sich für den Numengard. Alle Kinder − bis auf die beiden Halbnumen Rion und Eulyale.

Rion, ein Koloss, halb Gott, halb Pferd, hatte, als die Götter sich zu diesem Schritt entschieden, schon eine Familie gegründet. Er herrschte er derweil über den gesamten Nordwald, welcher sich über abertausende Meilen Land erstreckte. Alle Geschöpfe des Waldes unterstanden seiner Herrschaft, denn seine Erhabenheit und Weisheit betörte selbst den mürrischsten Waldschrat.

 

Eulyale war die zweite Halbnumina, die sich für die Erde statt für den Numengard entschied. Sie war eine Halbgöttin von nympischer Statur. Ihre Schönheit war sprichwörtlich und viele Geister hatten um sie geworben. Doch sie wies sie alle zurück. Eulyale hatte in den Numengard ziehen wollen, wie all ihre Geschwister, als die Zeit der Entscheidung kam. Ihre Entscheidung stand fest, doch dann fing Rion an, sie zu umwerben. Er war seit Kurzem verwitwet und wollte die schöne Eulyale zu seiner neuen Frau machen. Eulyale, jung und naiv, verliebte sich in den Halbnumen aus dem Wald und versagte dem Leben im Numengard. Sie und Rion wurden ein Paar für fast achtzig Jahre. Seiner Sippe gefiel das nicht. Sie sahen in der nympischen Eulyale keine gute Frau an der Seite ihres Patrons. Und so zwangen sie Rion, sich schließlich zwischen Eulyale und seiner Verpflichtung als Herrscher des Waldes zu entscheiden. Rion zog schweren Herzens sein Volk seiner Frau vor.

Er trennte sich von Eulyale.

Die Halbnumina war tief erschüttert von Rions Entscheidung. Schließlich war sie nur wegen ihm auf der Erde verblieben. Unendlich verletzt und gekränkt, zog sich Eulyale tief in die Berge des Ostens, zurück, welche im vierten Zeitalter Titangebirge genannt werden würde. Hier verlor sie sich und mit ihr alles, was ihr an Schönheit und Anmut gegeben war. Fast sechshundert Jahre verbrachte Eulyale allein in den dunklen Kammern der Berge, dazu gezwungen, ein nahezu unsterbliches Leben zu führen. Viel geschah in der Zeit ihrer Abwesenheit. Die Geister der Erde breiteten sich über den ganzen Kontinent aus und gründeten große Reiche. Keines war jedoch vergleichbar mit dem des großen Nordwaldes unter der Führung Rions. Selbst die Fürsten kamen zum Herrn des Waldes und baten ihn um Rat. Mit der Zeit vergaß die Welt, dass es einmal eine andere Halbgöttin gegeben hatte. Kein Geschichtsbuch erzählte von ihr und neben der Macht von Rion gab es, in den Augen der Geister, nichts mehr, was von großer Bedeutung war.

Einschub des Ãœbersetzers:

Zu dieser Zeit begab es sich auch, dass Rion den Stab der Flona durch eine List von Dain und seinen Brüdern, welche besser bekannt sind als die Hirsche des Hefies, erwarb. Dieses mächtige Artefakt verlieh Rion die Macht, aus leblosen Material Leben zu schaffen. Seitdem wurde er stets mit selbst erzeugten Kriegern begeleitet.

 

Eulyale jedoch lernte eine andere Macht kennen. Sie meditierte, einsam und verlassen in den Höhlen, bis sie anfing, die Kraft der Feen, die Magie, zu verstehen. Beinahe ein Jahrtausend verbrachte Eulyale mit dem Studium dieser Macht. Abseits der Geschehnissen des Zeitalters und unter den Augen der Feen, wurde Eulyale stetig mächtiger. Felizitas, die Oberste der Feen, hatte eine Vorliebe für die einsame Eulyale entwickelte und sich bereit erklärt, sie auszubilden. Dies tat sie, bis Eulyale, auf den Tag genau nach eintausentzweihundertundfünfzig Jahren, wieder von den Bergen hinabstieg. Nichts war mehr geblieben von der alten Eulyale. Intrigant, voller Rachsucht und Macht, begab sie sich zum östlichen Meer. Dort fühlte sie sich fürs Erste verborgen genug vor ihrem ehemaligen Geliebten.

An den Ufern des Meeres lebte Eulyale für eine Weile in einer kleinen Hütte, bis sie eines Tages etwas am Horizont ausmachte. Ein schwarzer Punkt war aufgetaucht und verdrängte den Horizont. Den ganzen Tag über beobachtete Eulyale, wie der Punkt näherkam. Sie konnte es nicht wissen, doch es war ein Boot voller Menschen. Sie hatten sich von Ganoe, Gaias Insel, aufgemacht, um den Ozean zu überqueren und neues Land zu suchen, denn die Insel wurde zu klein für die aufstrebenden Könige. Durch Zufall landeten diese Menschen an der Stelle wo Eulyale sich versteckt hatte. Keiner nahm jedoch Notiz von ihr, als sie ihr Lager aufschlugen. Eulyale beobachtete sie und stellte sich erst am nächsten Morgen den staunenden Menschen vor. Sie traf auf König Namib, der die Expedition persönlich geleitet hatte. Sie setzte ihre geschickte Zunge ein und betörte den König. Nachdem sie sich ihm körperlich hingegeben hatte, versprach sie ihm, er werde mit ihrer Hilfe nach der Besiedlung des Kontinents zum Großkönig aller Menschenstämme aufsteigen. Begeistert von der Vorstellung, folgte Namib Eulyales Rat und segelte schon am nächsten Tag mit seinen Männern zurück nach Ganoe, um die anderen Stämme zu überzeugen, ihm zu folgen. Eulyale jedoch verblieb auf dem Kontinent und wartete. Beinahe zehn Jahre wartete sie. Sie erwartete die Ankunft der Menschen. Zehn lange Jahre bangte Eulyale um ihre Möglichkeit, sich an Rion für ihre Schmach zu rächen.

Dann kam Namib zurück und mit ihm sieben Menschenstämme, welche mit der Absicht über das Meer gefahren waren, das neue Land für sich zu erobern.

Es geschah, wie Eulyale es sich erhofft hatte. Die Menschen kamen wie ein Regen über die Welt und eroberten sich überall ihren Platz. Die ehemaligen Bewohner der „neuen Welt“, von den Menschen nur Geister genannt, wurden nach und nach vertrieben oder schlossen sich ihnen an. Nur der Nordwald blieb frei von Menschen, denn Rion duldete keinen Unfrieden in seinem Reich.

Die zwei Stämme, die westlich und östlich des Waldes ihre Reiche gründeten, lernten bald, mit dem mächtigen Halbgott zu leben und ihn zu respektieren. Königin Elaine und König Letician, welche die zwei Stämme anführten, wurden Freunde von Rion und erfreuten sich an dem Schutz, den er ihnen bot, und der Weisheit, die seinen Worten und Taten entsprang. Rion, der Eulyale für tot gehalten hatte, war misstrauisch über ihr neuerliches Erscheinen. Selbst als sie sich ihm gegenüber friedlich verhielt, beobachtete er sie mit Argwohn.

Den Menschen gegenüber hegte er ein ähnliches Misstrauen. Für Rion waren sie Eulyales Geschöpfe, weshalb er zu verhindern suchte, dass sie sich zu einem gemeinsamen Reich zusammenschlossen. Er bat die Königreiche Miosheim und Leticia, dem immer größer werdenden Machtanspruch der Königslinie von Namib zu entsagten.

Für Miosheim und Leticia war es keine schwere Entscheidung. Der König des Waldes war ein alter und mächtiger Verbündeter, die anderen Menschen jedoch unstet und unzuverlässig.

Und so folgten sie dem Wunsch des Zentauren Rion und brachen ihre Lehenstreue zu den Namibiern.

Eulyale hatte gehofft, dass es dazu kommen würde, doch entgegen ihrer Wünsche führte die Auflösung der Allianz nicht sofort zu einem Krieg zwischen den Abtrünnigen und Namibiern. Alle Menschenstämme verhielten sich vorerst friedlich. Sie fürchteten den Herrn des Nordens und waren zu sehr mit der Eroberung des Landes beschäftigt. Eulyale kränkte es, dass „ihre“ Menschen nicht taten, wie ihnen geheißen, und sie ersann einen neuen Plan. Sie stiftete die anderen Könige ebenfalls zur Rebellion an. König Namib der Neunte, ein Nachkomme des legendären ersten Königs Namib, sah sich seiner Macht beraubt, und bat Eulyale um Hilfe, die Bundesgenossen wieder ins Großkönigreich zurückzuholen. Eulyale willigte ein, jedoch nur unter der Bedingung, dass der Krieg erst enden würde, wenn alle Menschenreiche wieder unter der Kontrolle der Namibier wären. König Namib war nicht dumm. Er wusste, dass dies unweigerlich Krieg mit dem König des Waldes bedeutete. Doch hatte er keine Wahl, wollte er seine Krone behalten, und so ging er den Pakt ein.

Für Eulyale war es dank ihres Wissens über die Gedankenmanipulation ein Leichtes, alle Reiche bis auf Leticia und Miosheim zurück unter die Lehensherrschaft des Großkönigs zu holen. Als nur die beiden Reiche unter des Zentauren Schutz fehlten, versuchte König Namib IX. den Krieg zu beenden, doch Eulyale erinnerte ihn an seine Vereinbarung, erst zu ruhen, wenn alle Reiche wieder vereint seien. Verängstigt von der Macht Eulyales und doch widerwillig, stimmte Namib einem Angriff auf den Norden zu, um dort seinen Anspruch auf die Krone des Großkönigs geltend zu machen. Doch der Angriff erfolgte nicht sofort, denn Eulyale wollte sich sicher sein, ihren ehemaligen Geliebten zu vernichten, und so griffen ihre Menschen zunächst die Geisterreiche an und eroberten sie eines nach dem anderen. Dank der nun treuepflichtigen Geister, stieg die Zahl ihrer Truppen immer stärker an.

Rion, der Eulyales Plan schon seit Langen durchschaut hatte, beobachtete mit Sorge, wie seine verschmähte Verlobte die Figuren in Position brachte. Und so befand er, dass es auch für ihn Zeit war, sich auf den Krieg vorzubereiten. Er versammelte alle Völker, die noch nicht von den Goronen unterworfen worden waren, unter dem Stab der Flona. Selbst die widerspenstigen Drachen folgten ihm.

Einschub des Übersetzers: Goronen nannten die Nordlinge die Diener von Eulyale kurz vor dem Krieg, es bedeutet in der alter Waldsprache schlicht „Feinde“.

Eulyale, welche sich vor Rion und seiner wachsenden Schar fürchtete, stoppte die Eroberung der Geisterreiche und befahl ihren Truppen, in den Nordwald einzufallen. Auf den Weg ließ Eulyale sie alles verwüsteten, gleichgültig, ob Tier, Haus oder Baum, denn Eulyale hasste alles, was Rion gehörte. Kurz vor dem Baum der Welt, welcher die Erde mit dem Numengard verband, stellte sich Rion mit seinen Verbündeten zur Schlacht. Es war ein blutiger Kampf Mensch gegen Mensch, Geist gegen Geist, Halbgott gegen Halbgott. Die Sonne ging viele Male über dem verwüsteten Schlachtfeld auf und unter. Die stinkenden Leichen verwesten am Boden, auf dem die Überlebenden entschieden, wer sich zu ihnen gesellen sollte. Selbst die Zwerge Dain, Dawlin, Dunar und Durator, die zuvor vom König des Waldes bestohlen worden waren, kämpften und starben an Rions Seite und mit ihnen fast alle Menschen aus Leticia und Miosheim. Am siebten Tag der Schlacht schien Rion mit Hilfe der Waldschrat Armee, die er mit seinem Stab erschaffen hatte, die Oberhand zu gewinnen, doch er hatte sich in Eulyales Stärke getäuscht. Sie griff den riesigen Zentaur an und verbrannte ihn mit ihrem beschworenen Drachenfeuer. In dem Moment, in dem Rion starb, zerfiel auch seine Armee, und die Drachen, welche bisher an Rions Seite gekämpft hatten, wechselten die Gefolgschaft. Trunken von dem nahen Sieg und der Genugtuung, Rion getötet zu haben, entfernte Eulyale sich das erste Mal von ihrer Armee. Sie schleppte Rions Leichnam vom Schlachtfeld an den Rand des verbrannten Waldes, wo sie seinen Körper enthauptete und ausweidete.

Diese Chance nutzte Elaine.

Königin Elaine die XVI. war von Rion ausgebildet worden und jung in ihr Amt gekommen. Der Halbgott hatte Gefallen an der klugen Königin gefunden und ihr einen Bogen aus einer Faser seines Stabes geschenkt.

Mit diesem Bogen schlich Elaine sich an Eulyale heran, spannte die Sehne, schoss und tötete Eulyale mit einem einzigen Stahlpfeil. Im Moment des Todes brach ein schwarzes Pferd mit Flügeln aus Eulyales Körper hervor. Chrysaor war geboren.

Die Goronen flohen, als sie sahen, was mit ihrer Hexenkönigin geschehen war. Elaine verbot den verbliebenen Truppen, den Goronen nachzusetzen, da sie wusste, dass die hohen Verluste auf ihrer Seite einen Sieg fraglich machten. Es folgte eine Zeit des Wundenleckens. Königin Elaine und die anderen Könige beendeten den Krieg, den man nun den Krieg der ewig blutenden Wunde nannte, ohne einen Sieger.

Die Schlacht am Baum der Welt war also geschlagen und Königin Elaine die neue starke Frau des Nordens. Doch niemand feierte das Ende des Krieges. Die Menschenstämme, die auf Rions Seite gestanden hatten, waren beinahe ausgelöscht. Die meisten Waldgeister wandten sich von der neuen Herrscherin ab, denn Rion, der Halbgott, war es gewesen, dem sie gefolgt waren. Auch die übrigen Zentauren wollten mit den Menschen nichts mehr zu tun haben und verbannten sie aus den Gebieten um den Nordwald. Nur zwei Jahre nach der Schlacht am Baum der Welt wurde Elaine von einem Waldschrat getötet, der ihren Bogen stahl.

Die Goronen hingegen, geeint durch die Macht Eulyales, zerstritten sich nach ihrem Ende und durch das Aussterben der Namibischen Dynastie. In Folge der Wirren des Krieges zerfiel das Großkönigreich in viele kleine Reiche. Die Geister, getötet und versklavt durch die Menschen seit Beginn der Eroberung des Kontinents, waren gebrochen und lebten zurückgezogen an unzugänglichen Orten.

Die Feen nutzten diese Zeit und bemächtigten sich der Artefakte wie dem Stab der Flona und den Stein der Weitsicht, welche sie auf ihre Heimatinsel mitnahmen. Den Bogen der Elaine konnten sie jedoch nicht finden. Er ging in den Jahren der Veränderung verloren. Und so glitt die Welt in eine dunkle Zeit nach der dritten großen Zivilisation und machte Platz für die vierte Welt.

Diese Welt sollte das Zeitalter der Laindar werden.